Rio de Janeiro. Ankunft. Der schlimmste Flug meines Lebens. Ein Überfall an der Copacabana. Und alleine durch die gefährlichsten Favelas von Rio. Die ersten Stunden einer bevorstehenden Reise um die Welt hätten die letzten sein können. Dabei war ich noch gar nicht richtig in Brasilien angekommen. Das Herz hatte ich beim tränenreichen Abschied meiner Eltern in Österreich zurückgelassen. Doch am Ende war eine Busfahrt durch Rio de Janeiro mein ganz spezieller Wegweiser.
Schlimmster Flug meines Lebens
Flug von London nach Rio. Schaukeln mochte ich schon als Kind nicht. Und schon gar nicht in Luftlöchern bei Flug-Turbulenzen. Etwa eine halbe Stunde vor der Ankunft in Rio sendet mir mein Gleichgewichtsorgan plötzlich dermaßen heftige Bewegungswechsel, dass sich meine Peristaltik rückwärts zu bewegen beginnt. Ein schneller Blick aus der Fensterluke erklärt warum. Unfassbar! Hunderte Millionen Volt schlagen direkt neben unseren Flügeln ein. Wir steuern mitten durch ein Blitzlichtgewitter. Und stehen unter Dauerbeschuss. Dass die Lampen im Flugzeuginneren jetzt ausgeschaltet sind, ändert nichts an der Helligkeit. Das Gewitterleuchten hat die Nacht längst zum Tag erweckt. Von links nach rechts und zurück. Rauf und runter.
Nahtod-Gedanken evoziert das Gewitterschaukeln. Manche beginnen zu schreien. Andere erbrechen. Zeug fliegt durch die Gegend. Noch unangenehmer wird das Schaukeln und Fallen beim Sinkflug. Jetzt haben akute Existenzsorgen die ursprünglichen Gedanken zum Flugkomfort längst zurückgedrängt. Es geht jetzt einfach nur noch darum, ob der Kapitän unser Flugschiff sicher landen kann. Etwas später setzen wir bei bereits überfluteten Straßen unter höchstem Pulsschlag besonders hart auf. Es gibt einige Kopfverletzungen. Am nächsten Tag lese ich. In nur 3 Stunden haben 40.000 Blitze auf Rio eingeschlagen. Sogar Jesus Christus hat seinen Finger verloren. Die nächtlichen Feuerstrahlen beschädigten Daumen, Mittelfinger und Kopf der 38m hohen Christus-Erlöser-Statue.
Überfall an der Copacabana
Spaziergang an der Copacabana. Dem weltberühmten Sonnengrill mit den wellenförmigen Mosaiksteinen auf seiner Promenade. Ob Bettler oder Schauspieler, Fußballprofi oder Drogendealer. Auf dem Strand sind alle gleich. Rund um mich herum herrscht reges Treiben. Man fährt Skateboard oder Rad. Es wird gejoggt. Da nehme ich mir Zeit für ein Foto. Langsam nehme ich meine Kamera aus der Tasche. Den Tragegurt lege ich wie immer um meinen Hals. Und jetzt ist auch das Motiv entdeckt. Mein rechtes Auge zielt durch den Sucher. Das linke sieht verschwommen ein paar Kinder langsam vorbei fahren.
Plötzlich bleiben die stehen. Ein Junge läuft auf mich zu und packt nach meiner Kamera. Ein kurzes festes Ziehen. Dann trete ich dem Lausbub in den Hintern. Und ganz schnell hauen sie ab. Abends verrät mir ein brasilianischer Freund: „Da hast Du Glück gehabt. Rios Kinder sind gefährlich, weil sie so unscheinbar sind. Manchmal ziehen die völlig unreflektiert eine Pistole und erschießen Dich auf offener Straße.“
Favelas von Rio de Janeiro
Fernhalten sollte ich mich. Wer sich trotzdem in Rios Armenviertel hineinwagt, sollte das nur mit einem Reiseführer machen. Erzählt man sich. Entgegen aller Ratschläge gehe ich alleine los. Nicht nur durch Santa Marta, auch durch Rios berüchtigtste Favela: Rocinha. Keine Wasserversorgung, hohe Kriminalität, Drogenmafia. Vor wenigen Jahren soll in den versteckten Berghängen von Rio noch täglich geschossen worden sein.
Mein Weg führt mich nicht nur durch die mit Polizeipräsenz ausgestatteten Hauptstraßen. Vielmehr sind es die dunklen, engen und steilen Gassen, die meine Neugier wecken und mich stundenlang von Haus zu Haus führen. Gefahren? Keine. Einem Mann habe ich spontan beim Kartoffel schälen geholfen. Ansonsten lächelten mir die Menschen hier wahnsinnig viel Wärme entgegen.
Irrfahrt mit dem Bus durch Rio
Flughäfen, Autobahnen, Busfahrten. Eigentlich werden all diese Orte des Transits auch als kulturelle Nicht-Orte bezeichnet. Vorübergehende Orte, die scheinbar keine kulturelle Identität haben. Am dritten Tag in Rio nehme ich den Bus. Eine überdimensionale Stadtkarte soll mir unterwegs den Weg nach Lapa weisen, wo ich abends mit Freunden zum Samba-Tanzen verabredet bin. Doch während der Fahrt schweife ich gedanklich ab. Ein Sturm von Reflexionen zu den völlig verrückten Erlebnissen aus den letzten Stunden: Gewitterflug. Überfall. Favelas durchquert. Der Anfang meiner langen Reise verlief äußerst ambivalent. So ambivalent, dass man sich verlieren kann. Und genau das passiert mir gerade…
Plötzlich nimmt mich etwas an der Hand
An Lapa bin ich längst vorbei gefahren. Sehe ich gerade. Ganz nervös springe auf. Ich muss unbedingt an der nächsten Station aussteigen. Keine Ahnung, wo ich jetzt sein könnte. Fragen kann ich auch niemand, ich spreche ja kein Portugiesisch. In diesem Moment nimmt mich plötzlich etwas an der Hand. Es ist die wärmende Hand einer alten Frau, die mir beruhigend zulächelt. Ihre beschützende Aura war mir irgendwie vertraut. Zuletzt musste ich so etwas als Baby in den Armen meiner Mutter gespürt haben. Die Frau sprach gar nicht zu mir. Sie lächelte nur und ließ meine Hand nicht mehr los.
Wenn sich Sorge und Zuversicht die Hände reichen
An der nächsten Station stiegen wir gemeinsam aus. Ich wusste gar nicht was ich davon halten sollte. Immer noch Hand in Hand. Draußen zeigte sie mir dann eine Busstation, von wo ich wieder zurück nach Lapa gelangen konnte. Dass sie irgendwann meine Hand losließ und verschwand, fiel mir gar nicht mehr auf. Etwas später erkannte ich auch, dass mir die lächelnde Frau ebenso wenig mein Ziel gezeigt hat. Vielmehr lehrte sie mich, wie man den Weg der Sorge verlässt und Zuversicht ins Ungewisse entwickelt. Wer daran glaubt, dass alles, was geschieht, am Ende gut sein wird, der ist befreit. Einverstanden mit dem Fluss des Lebens.
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