1 Million. Oder 1,5 Millionen? Niemand weiß genau, wie viele Menschen dicht gedrängt in Afrikas zweitgrößtem Slum leben. Das ist deshalb so, weil die sozioökonomische Struktur in den Slums außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt. Und sich damit ebenso jenseits der isolierten Zählungsmethoden befindet, wie wir sie im Westen gewohnt sind. Kibera heißt es aus gutem Grund. Aus dem Nubischen übersetzt bedeutet kibra soviel wie Dschungel. Ein urbaner Dschungel aus Blechhütten, Müll und Angst.

Nairobi, Kenya, Travel Drift
Im Hintergrund: Kibera Slum

Lebenssituation im Kibera Slum

Oft schlafen sechs Familienmitglieder in einer drei Mal drei Meter großen Hütte. Ohne Strom, Fenster und Wasser. Draußen dient ein Loch im Boden als Toilette für bis zu 500 Personen. Sobald es voll ist, bringen Kinder den Inhalt zum Fluss. Wenn es aber stärker regnet, fließen Bäche von Fäkalien durch die Hütten. Die meisten leben von 1 US$ pro Tag. Falls sie Gelegenheitsjobs haben. Die Arbeitslosenrate liegt nämlich zwischen 50-70 Prozent. Das führt zum nächsten Problem. Um Langeweile zu lindern, wird billig, aber falsch Changaa gebraut. Ein Schnaps mit mehr als 50% Alkoholgehalt. Oft reich an toxischem Methanol, wovon viele erblinden oder sterben. Andere greifen zu billigen Drogen oder Leimschnüffeln.

Das hat direkte Auswirkungen auf Frauen. 50% der 16 bis 25-jährigen Mädchen werden schwanger. Nicht selten verursacht durch Vergewaltigung von betrunkenen Männern. Die aus Verzweiflung selbst durchgeführten Abtreibungsversuche führen bis zum Tod. Neben katastrophalen hygienischen Verhältnissen, wo sich Malaria, Typhus und AIDS ausbreiten, gesellen sich noch Betrug, Raub und Mord hinzu. Ausgelöst durch den Klimawandel führen zusätzlich unzuverlässige Wettermuster im nilo-saharischen Gebiet zu einem starken Zustrom ins größte Armenviertel Nairobis. Obwohl sich die UNO und viele NGO’s seit Jahren engagieren, hat Kibera den Ruf, eines der gefährlichsten und verseuchtesten Slums in ganz Afrika zu sein.

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Ziegen fressen in Bächen aus Plastik und Exkrementen

Von Schildern und Vorurteilen

Gefahren und Seuchen, Drogen und Kriminelle. Die perfekte Vorlage um diesen Menschen ein Schild umzuhängen. Wir sehen dann gar nicht mehr das, was eigentlich vor uns ist. Sondern das, was wir zu sehen glauben. Dunkle Images davon. Einen Bruchteil der Realität. Unverrückbar. Und sagen zu uns: „Geh da bloß nicht hin!“ Nichts kann so trügerisch sein, wie das eigene Wissen.

Umgang mit dem Fremden

Bei Fremdenfeindlichkeit muss es sich auch nicht immer gleich um Rassismus handeln. Unsere Unterscheidung zwischen dem Eigenen und Fremden, zwischen Freund und Feind gehört zu den basalen Verhaltensmustern aller Lebewesen. Davon hängt das Überleben ab. Wenn wir am Bahnhof jemanden fragen, ob er kurz auf unser Gepäck aufpassen kann, fragen wir lieber das alte Ehepaar als den „Penner“. Eigene Wahrnehmungsfilter entstehen unbewusst. Das kann die Auseinandersetzung mit dem Fremden verhindern. Wenn wir also vorher schon von Gefahren, Drogen, Seuchen und Kriminellen im Kibera Slum wissen, nehmen wir das lieber fraglos hin. Ziehen uns zurück. Unterscheiden zwischen: Denen. Und uns. Ohne dass wir eigene Erfahrungen mit den Menschen im fremden Raum kommunikativ ausgehandelt hätten.

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Drogenbekämpfung in Kibera
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Schienen durch das Kibera Slum
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Holzkohle zum Verkauf

Aufbruch nach Kibera

Im Hotel versuchte mich noch die Rezeptionistin aufzuhalten. Als ich ihr davon erzählte, alleine ins Kibera Slum gehen zu wollen, war sie bestürzt: „Bitte geh nicht!“ Ich könnte ausgeraubt, gekidnappt, ja sogar umgebracht werden. Schon gestern rieten mir zwei meiner Freunde in Nairobi eindeutig ab: „Zu gefährlich!“ Die 5km von Nairobis Zentrum nach Kibera ging ich zu Fuß. Ich bin genug herumgekommen, um zu wissen, dass diese Gegend „nicht sicher“ ist. Aber die Frage nach der Sicherheit ist eine Scheindebatte. Oft wird nach Sicherheit geschrien, aber im Verhalten nicht umgesetzt. 

Die ersten Schritte

Vor dem Eingang stehen zwei Polizisten. „Hast Du denn keinen Guide? Mann, Du weißt, dass Du weiß bist! Geh da nicht alleine rein! Zu gefährlich für Dich.“ In Absprache mit Verstand und Herz bedanke ich mich freundlich und gehe an ihnen vorbei. Übrigens mit einer 1.000 US$-Kamera um meinen Hals. Die ich liebe. Es ist das einzig Wertvolle, dass ich als Backpacker besitze. Nur dachte ich, falls ich tatsächlich überfallen werde und sie mir gestohlen wird, gibt es jemanden, der sie wohl noch dringender braucht als ich. Und damit war ich einverstanden. 

Anfangs war es noch eine breite Straße. Viele kleine Verkaufsstände. Gemüse und Holzkohle wird verkauft. Dazwischen Ziegen und Hühner. Dann halten die Leute für einen Moment inne. Und starren. Plötzlich bewegt sich etwas Weißes durch die Straße. Sie haben mich identifiziert. Als Muzungu. Was auf Bantu soviel heißt wie: der Weiße, der ziellos herum wandert. Ertappt.

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Selbst anpacken 😀
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Gemüsestand

Meine Eintrittskarte

Ein junger Mann mit schwerem Schubkarren kommt auf mich zu. Und sieht mich lange an. Dann fragt er höhnisch: „Willst Du helfen?“ Schallendes Gelächter von den Seiten. Aber genau das war meine Eintrittskarte ins Slum. „Na klar“, sagte ich und gehe auf ihn zu. Damit hat er nicht gerechnet. Ich nehme ihm seinen Schubkarren ab und falle fast um. Schallendes Gelächter. Ich lache mit. Noch ein Versuch. Das mussten etwa 100kg sein. Vorwärts. Den Hügel hinauf. Geschafft. Nach einer Umarmung kamen wir ins Gespräch. Er arbeitet für ein Sozialprojekt hier in Kibera.

„Du bist mutig, alleine hier zu sein. Die Leute kalkulieren schon im Vorbeigehen den Preis Deiner Kamera. Nimm lieber einen Guide.“ Ich lehnte ab. „Dann bleib wenigstens auf dieser Hauptstraße. In den Seitengassen könnte man Dich abstechen.“ – „Das habe ich schon so oft gehört. Warum tut es jetzt niemand? Ich glaube, dass hier sehr nette und liebe Menschen leben. Ich will sie treffen.“ Der junge Mann war sprachlos. Sein Freund sagte: „Danke.“ Wir klatschen ab. Ich gehe weiter. Jemand ruft mir nach: „Bleib auf der Hauptstraße!“

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Abgebogen in irgendeine Seitengasse von Kibera

Leben in den Gassen

Nur wenig später biege ich nach rechts. Sprung über einen kleinen Bach aus Exkrementen und Plastik. Beißender Gestank. Jetzt bin ich drin. Genug von den Ratschlägen. Kultureller Austausch kann nur in der aktuellen Kreuzung passieren. Ich hab die Unterscheidung zwischen „denen“ und „mir“ satt. Und will versuchen, unser soziales Miteinander hier zu harmonisieren. Die Gasse ist leer. Ich sehe Wände, die bestenfalls aus Lehm gebaut sind. Oft gibt es nur lose Außenwände aus Wellblech und Kartons. Dann höre ich die ersten Worte in der menschenlosen Gasse…

Danke als Grußformel

Danke.“ Höre ich verwundert. Aber ich sehe niemanden. Noch etwas weiter tönt aus der nächsten Hütte: „Danke.“ Dann kommt ein Kind heraus gelaufen. Noch eins. Drei. Fünf. Und schon war ich umzingelt von neugierigen Kleinkindern mit dem wunderschönsten Lächeln, das man sich vorstellen kann. Etwas später kamen auch Erwachsene heraus. Sie starrten nicht mehr. Sie lächeln nur noch. Dass sie statt einem „hallo“ zuerst „danke“ sagten, hat mich zunächst sehr verwirrt. Intuitiv grüßte ich dann auch mit einem „danke“ zurück. Erst viel später sagte mir jemand, dass es sie glücklich macht, dass sich ein Weißer hierher traut. Ohne Führer, ohne Team, ohne Polizeischutz. Einfach vertraut.

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die ersten Kinder tauchen auf 🙂
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Inneres einer Slum-Hütte in Nairobi

Mama Kideri

Nach einer Weile sah ich einen Mann, der gerade Essen vorbereitete. „Bitte. Meine Frau hat gekocht. Kosten Sie.“ Ich nehme eine kleine Schale von seinem Kideri. Das sind Wasser, Mais und Bohnen. Salz hat er keines. Ich will ihm ein paar Schilling dafür geben. Aber zu meiner Überraschung lehnt der Mann ab. Das konnte ich kaum glauben. Ausgerechnet hier. Wo Geld vielleicht am dringendsten benötigt wird, verzichtet er darauf. 

Wenig später bog ich um die Ecke und war in einer neuen Gasse. Übrigens, noch immer umkreist von einem Dutzend Kindern. Da winkte mich plötzlich eine Frau vor einem riesigen Kochtopf zu sich. Plötzlich schrien die Kinder: Mama Kideri, Mama Kideri! Ich müsse unbedingt von ihrem Gericht kosten, sagte sie mit überzeugtem Blick. Natürlich war es Kideri. Daher also der Name. Ich hatte überhaupt keinen Hunger. Aber abzulehnen, wäre unhöflich gewesen. „Ich hab gerade gegessen. Aber ich nehme ein oder zwei Löffel.“ – „Ein, zwei Löffel?“ Fragte sie mich entsetzt. „Sieh Dich doch mal an, wie groß Du bist!“ Schon hatte ich einen vollen Teller in meinen Händen.

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Essen bei Mama Kideri
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Kinder im Kibera Slum von Nairobi

Der Reichtum der Kinder

Noch immer tönt aus den Hütten abwechselnd ein „danke“ und „hallo“. Ich kann es kaum begreifen, wie man mich hier empfängt. Ein Mann öffnet seine Haustüre und lädt mich zu sich ein. Einmal mehr verschlägt es mir die Sprache. Fünf Quadratmeter Wohnfläche, die er sich mit Ehefrau und drei Kindern teilt. Aber schon zieht mich hinten etwas am Shirt. Es sind die verspielten Kinder. Sie springen, tanzen und lachen.

Manchmal umgeben mich fünf, manchmal 30. Pure Freude. Entweder wollen sie auf mich hinauf klettern. Dann laufe ich kurz mit drei Kindern auf mir herum. Oder sie bestaunen die Kamera. Das fasziniert sie. Sie wollen dann unbedingt aufs Bild und schauen mit großen Augen durch die Linse. Alle wollen sie am Foto sein. Wildes Gedränge mit riesigem Spaß. Als ich einmal die Fotos betrachte und mich hinknie, zieht ein Kind ganz neugierig an meinen Haaren. Mit offenem Mund zieht mich ein anderes Mädchen an meinen Ohren. Und dann lachen sie laut. Einfach herrlich.

Ein Tropfen Coca Cola

Nach 1 Stunde mache ich Rast und setze mich vor eine Hütte. Einen Apfel hatte ich noch in meiner rechten Kameratasche. In meiner linken war eine zerquetschte Coca Cola-Dose, die ich schon auf dem Weg nach Kibera ausgetrunken habe. Ein kleiner Bub setzte sich neben mich und beobachtete. Etwa 5 Jahre. Dann zeigte er auf meine Cola-Dose. „Tut mir leid. Die Dose ist leer.“ Aber der kleine Junge zeigte wieder darauf. Er wollte unbedingt diese zerquetschte Dose haben. Also gab ich sie ihm. Er nahm sie. Und schaute. Dann neigte er die zerquetschte Dose zu seinen Lippen und versuchte mit seiner Zunge die letzten Tropfen Cola heraus zu bekommen. Ich konnte nicht anders. Mir kamen die Tränen.

Besonders als er nach dem erkämpften Tropfen Cola ein riesiges Lächeln im Gesicht trug. Ich nahm meinen Apfel heraus. Den wollte ich ihm jetzt schenken. Aber in dem Moment nahm plötzlich jemand hinter mir den Apfel aus der Hand des Buben. Sofort drehte ich mich verblüfft um. Das war seine Mutter. Die lächelte und sagte: „Wir teilen hier.“ Sie nahm ein Messer und schnitt den Apfel in 20 kleine Stückchen. Dann rief sie die anderen Kinder herbei. Jetzt konnten alle davon kosten. 

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Kinder im Kibera Slum von Nairobi

Das Gasthaus

Dann ziehen mich drei Kinder. Ich soll mitkommen. Slum-Tour. Ziellos laufen wir durch ein Labyrinth aus Lehmhütten. Klettern über Wände und springen über die stinkenden Bäche, wo Moskitos ihre Eier ablegen und Malaria grassiert. In einem Hinterhof sehe ich riesige Säcke mit Plastik und Metall, die die Kinder zusammen getragen haben. Ein Mann verrät mir: wenn Du nach einigen Wochen 20kg sammelst, verkaufst Du. Dafür gibt’s 1.600 Schilling. Etwa 15 US$. Was auf mehrere Familien aufgeteilt wird.

Jemand greift mir auf die Schulter. „Komm mit!“ Er will mir das lokale Gasthaus zeigen. Eine etwas größere Hütte mit Möbel und großem Tisch. Auf einem Tisch steht eine halbleere Flasche Schnaps. Das muss Changaa sein. Die fünf Männer sind betrunken, haben weite Pupillen. Aber es ist eine angenehme Atmosphäre. Ein Satz von ihnen blieb mir für immer in Erinnerung: „Weißt Du, Du hast großes Glück, in einem Land wie Deinem geboren worden zu sein. Sieh uns an. Wir sind keine schlechten Menschen, nur weil wir keine Jobs haben, schwarz oder arm sind. Gott ist auch bei uns zuhause. Jeden Tag.“

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Slum Tour mit Kindern
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Gasthaus in Kibera. Beim Changaa saufen...

Mit Liebe bewaffnet

Hungersnot, Malaria, Meningitis, Cholera und Typhus sind allgegenwärtig. Bei den Fingernägel eines Kindes kann ich erkennen, dass es Polio hat. 50.000 AIDS-Fälle soll es laut Behörden geben. Das ist nur die offizielle Zahl. Trotz lebensbedrohlichem Alltag und kaum Perspektiven, ist der Reichtum dieser Menschen unübersehbar. Von Groß bis Klein. So ein strahlendes Lachen bin ich nicht gewohnt. Als ich abends zu meinem Hotel heimkehrte, fragte mich die Rezeptionistin: „Zum Glück bist Du wieder zurück. Wie wars?“ – „Naja, ich hatte eine Armada von 30 Kindern hinter mir und war bewaffnet mit einem leckeren Apfel.“

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meine Begleitung über 3h im Kibera Slum von Nairobi