Sicher bist Du auf Deinen Reisen schon auf Leute gestoßen, die Dir von einem neuen, viel besseren Ort vorschwärmen, den Du unbedingt gesehen haben musst. Ohne so ein Highlight wäre man sonst nicht wirklich in dem fremden Land gewesen. Ehrlich gesagt zögerte ich immer, wenn mich jemand nach meinem persönlichen Reise-Highlight fragte. Diesen weit verbreiteten Wunsch nach einer Rangordnung konnte ich nie richtig nachvollziehen. Das wäre doch unfair gewesen – den anderen Reisetagen und Orten gegenüber. Meine Vorfreude auf die bevorstehende Wanderung rund um den Cerro Torre war also wieder genauso riesig.
Schlechtwetter für den Geist
Die drei Jungs – mit denen ich mir für 1 Nacht das Zimmer in El Calafate teilte – konnten nicht verstehen, dass ich schon seit zwei Wochen in der Gegend war und noch immer nicht das Highlight von Patagonien gesehen habe. Der Cerro Torre gilt nämlich unter Bergsteigern als der schwierigste Gipfel der Welt. Reinhold Messner nannte ihn einen „Schrei aus Stein“. Weil wir sowieso alle am nächsten Tag da hin wollten, beschlossen wir zu viert nach El Chalten zu fahren.
Dann erreichte aber meine drei Schnarchkollegen eine Schlechtwetter-Meldung. Plötzlich wollten sie doch hier bleiben, auf besseres Wetter hoffen. Damit ihr auserwähltes Highlight auch auf den Fotos für Instagram besser rüber kommt. Wie viele Stunden, Tage, Monate haben wir schon vergeudet, auf irgendetwas zu warten? Auf den Abflug, das Wochenende oder bis die Corona-Epidemie vorbei ist? Wieviel Lebenszeit wir verschleudern. Wenn wir bloß aufhören würden, unser Glück von der Zukunft abhängig zu machen und deshalb das Jetzt totschlagen, wären wir nicht mehr so fixiert darauf, ans jeweilige Ziel zu kommen.
Dann könnten wir endlich die Reise genießen. Uns entspannen. Im Autostau über etwas reflektieren oder dem Geist eine verdiente Pause gönnen. Mit dem Fremden im Zug ein Gespräch beginnen und so viele Abenteuer erleben, die es nur in den kostbaren Zwischenmomenten des Lebens zu entdecken gibt. Immer wieder hörte ich, dass der Mai der schlechteste Wandermonat für Patagonien sein sollte. Kein Schnee. Und kein Grün. Das glaubten auch meine Schnarchkollegen. Bis jetzt hatte ich aber Weiß, Grün, Braun, Gelb, Orange und Rot. Für die nächsten Tage wurden Nebel und Regen vorausgesagt. Da dachte ich: Schön, da kann ich ja Grau auch noch sehen.
Tierische Wegbegleiter
Am nächsten Tag war keine einzige Wolke am Himmel. Strahlender Sonnenschein. Wenn das meine Zimmerkollegen jetzt wüssten. Am ersten Tag wanderte ich insgesamt 25km rund um die Gletscherlagune des Mt. Fitzroy. Für den zweiten Tag stand nun die erwähnte Wanderung zum Cerro Torre bevor. Und als ich morgens um sechs Uhr von El Chalten aufbrach, wartete schon ein Hund beim Wanderweg auf mich. Nicht nur um mich zu begrüßen. Sondern um mitzulaufen. Auch nach einer Stunde lief er immer noch neben mir her. Wer konnte es ihm verdenken? Die Strecke war wie ein Bilderbuch. Aus dem kleinen Bach, der sich durch das farbenfrohe Tal schlängelt, habe ich getrunken. Weiches Moos bietet sich als Pausenpolster an. Bis ein lautes Geräusch intervenierte.
Rendezvous mit einem Specht
Immer lauter wurde das Hämmern. Das muss doch ein Specht sein! Aber so laut? Ich folgte dem Geräusch und sah den Grund. Ein Magellanspecht. Mit 40cm der größte Specht der Welt. Solche Dimensionen war ich aus Europa nicht gewohnt. Toller Zeitpunkt, um eine Pause zu machen. Mit Sandwich, Apfel und Wasserflasche ließ ich mich ins weiche Moos fallen. Auch der Hund hatte nichts dagegen. Voller Begeisterung beobachten wir, wie Herr Specht seine neue Wohnung zimmert. Welches Geheimnis sich wohl hinter seiner Kopfanatomie verbirgt, um die heftigen Erschütterungen abzudämpfen? Oder dass ihm die Augen dabei nicht herausfallen?
Und dann kamen plötzlich zwei Wanderer laut sprechend von rechts. Ich sprang auf und zeigte begeistert auf das 40cm große Wunder der Natur. Eigentlich dachte ich, sie würden daraufhin leiser und langsamer werden. Aber schwer keuchend und im selben Marschtempo zogen sie nur ihre Kamera – *klick* – und waren auch schon wieder weg. Ich war sprachlos. Wo eilen diese Menschen bloß alle hin? Geht es hier nur noch um den Cerro Torre?
Menschenwesen oder Menschengeher
Nicht nur im Berufsleben. Auch beim Reisen sind viele so intensiv mit dem Erreichen eines Ziels beschäftigt, dass sie die Distanz zwischen den Orten eliminieren. Eigentlich werden dadurch beide Enden der Reise zum selben Ort. Und wenn wir die Distanz eliminieren, eliminieren wir auch die Reise. Bei einem tollen Song freuen wir uns ja auch nicht auf den letzten Ton. Es ist uns auch völlig egal, wo wir am Ende eines Tanzes auf dem Parkett stehen werden. Worauf es beim Tanzen ankommt ist doch das tanzen. Wem auch immer wir nachjagen, dem Erfolg, dem Paradies oder dem Wetter. Statt uns den ganzen Weg entlang selbst zu betrügen, sollten wir unsere Aufmerksamkeit dem widmen, wo wir gerade sind.
Was mich betraf: ich war bereits angekommen. Ich hatte es geschafft. Bis hier her. Direkt vor den Specht. Ohne vorher gewusst zu haben, ob und wann das der Fall sein würde. Sehr angenehm. Ich kann jedem empfehlen, mal eine Weile hier zu bleiben, statt ständig hin und her zu rasen. Dann können wir es vielleicht einmal von Menschengehern, Menschentuern und Menschendenkern zu Menschenwesen schaffen. Als ich in der Abenddämmerung total glücklich wieder zurück im Hotel war, sah ich die beiden Wanderer noch einmal. Sie meinten: „Der Cerro Torre war echt schön. Aber die Wanderung war ja stinklangweilig.“ Tja. Der fremde Hund begleitete mich übrigens über die gesamte Tagesstrecke von 25km bis ich wieder sicher zurück im Dorf war.
Deine Zeilen über das Leben des Augenblicks, das mutwillige Totschlagen der Distanz zwischen den Dingen und die starre Fixiertheit auf ein Ziel haben mich gerade im richtigen Moment gefunden. Da stelle ich mir doch gleich die Frage: Was zur Hölle mache ich eigentlich in diesem WIFI Kurs in dem wir diese Woche zufällig nebeneinander zum Sitzen gekommen sind. Gratulation zu deinem Blog! Beim durchsehen habe ich übrigens bemerkt, dass ich schon einmal darin gelesen habe. LG Christian
Servus Christian! Na was für ein Zufall 😀 Völlig richtig, ich finde auch, dass unsere Entscheidungen über die Zuordnung von Sinn letztlich unser Sein und Glücklichsein bestimmen. Und ich finde ja, Du solltest einen WIFI-Kurs zum Fingerschnippen anbieten – das würde der Welt gut tun 😉 Herzlich, Michi