Aufmerksam höre ich zu, wenn junge Backpacker begeistert über ihre authentischen Reiseerfahrungen in anderen Ländern sprechen – abseits vom ganzen Massentourismus: Farmarbeit in Neuseeland, Zelten in Patagonien oder Couchsurfing in Paris. Sie hätten dort das echte Land und die wahre Kultur erlebt und romantisieren das exotisch Andere. Auch ich habe mich bei Erzählungen schon oft dabei ertappt, vom Echten und Authentischen zu sprechen, das so viel verspricht und so viel verbirgt. Eigene Reisen zu weit entfernten Zielen habe ich gerne manchmal als gefundenes Paradies bezeichnet, während ich meine Rückkehr seltsamerweise nie als verlorenes Paradies dargestellt habe. Genauso schmunzeln muss ich heute, wenn Leute mit Anfang 20 Weltreisen gemacht haben und deshalb schon die ganze Welt erklären können. Begegnungen mit dem Fremden bedeuten immer eine Herausforderung für unsere Identität. Bevor ich mich aber mit den verschiedenen Reisetypen beschäftige, will ich zuerst die zentrale Voraussetzung für eine längere Reise beleuchten.
Zeit als Voraussetzung fürs Reisen
Zeit. Wenn ich davon erzähle, mehrere Monate reisen zu wollen, passiert es mir nicht selten, dass ich entweder heroisch gefeiert oder sozial sanktioniert werde. Schnell wird man von Freunden als Abenteurer und Entdecker in den Heldenstand gehoben. Ebenso schnell stößt man bei Arbeitskollegen oder Familie auf Unverständnis, wenn man die vorgezeichnete Lebensbahn verlässt. „Du solltest Deine Zeit besser nützen und ein normales Leben führen. Denk an Deine Zukunft“, höre ich.
Diese Kritik kann ich gut verstehen. Zeit bedeutet in westlichen Gesellschaften Geld. Seit der Industrialisierung wird Zeit administrativ verwaltet. Seither wurde Zeit zum Zwang, der das Leben plötzlich auf eine feste und unflexible Weise in Arbeitszeit, Überstunden und Freistellung strukturiert hat. Viele Menschen – nicht nur jene, die einer Routinearbeit nachgehen – nehmen den „echten“ Teil ihres Lebens außerhalb der bezahlten Arbeit wahr. Darauf verweist einerseits schon der gesellschaftlich etablierte Begriff „Work-Life-Balance“, der suggeriert, dass man während der Arbeitszeit nicht richtig leben würde. Andererseits macht die häufig gestellte Frage – was machst Du so in Deiner Freizeit? – das menschliche Grundbedürfnis deutlich, eine Person hinter seiner Berufsrolle näher kennenlernen zu wollen. Und an dieser Stelle entfaltet sich das Dilemma mit dem westlichen Zeitparadigma:
Zeitreichtum vs. Zeitarmut
In sogenannten armen Gesellschaften in der Dritten Welt sind die Menschen mit Zeitreichtum ausgestattet. Man hat Zeit, zu sein. Das wird den Menschen in reichen Ländern genommen, die stets von Zeitarmut geplagt sind. Um nämlich die Vorteile einer begrenzten Freizeit als verkaufte Lebenszeit abrufen und nutzen zu können, muss sie erst durch genügend Arbeitszeit erkauft werden. Deshalb wird das Leben an der Zukunft ausgerichtet. Aus dem kapitalistischen Fortschrittstrieb heraus nutzen wir die Gegenwart, um in der Zukunft anders zu sein, als wir jetzt sind. Man stellt Leistung und Organisation in den Vordergrund und läuft stets der gemessenen Zeit hinterher. Während der Jagd nach Lebenszeit sollten uns digitale Kommunikationsmittel noch dabei helfen, Zeit zu gewinnen, indem die natürliche Zeitenabfolge manipuliert wird und mehrere Aufgaben zeitgleich erledigt werden können. Aber je mehr Zeit gemacht wird, desto weniger Zeit gibt es. Zeitdruck und Zeitzweifel erhöhen sich. Das kann eine Person in unserem linearen Zeitsystem dazu bringen, sich zu verlieren, vor allem, wenn die Diskrepanz zwischen der subjektiv empfundenen Lebenszeit und der tickenden Uhrzeit immer weiter auseinander klafft. Wer nämlich nichts tut, hat das Gefühl, aus seinen Zeitnutzungsoptionen nichts gemacht zu haben. Dann wird die eigene Rastlosigkeit zur Ratlosigkeit. Das Phänomen der Langeweile kommt auf. Ein Phänomen, das es in Gesellschaften mit zyklischem Zeitverständnis gar nicht gibt.
Es fällt mir deshalb schwer, Freizeit – als manipulierte Ressource – als wirklich frei zu begreifen. Wer nicht frei ist, will sich mit einer Vielzahl von Ablenkungen belohnen, um den arbeitsintensiven Zeitintervallen zu entkommen. Genau diese Ablenkungen sind in kapitalistischen Gesellschaften mit der Vermarktung von Freizeit verbunden. Denn die vermeintlich frei gewählte Freizeitbeschäftigung besteht oftmals in der Belohnung – also dem Konsum verfügbarer Freizeitgüter wie Fernsehen, Gasthausbesuchen, Fortgehen oder Shopping. Sich zum Beispiel mit einem Urlaub für die harte Arbeit belohnen, um sich so zu regenerieren, dass man in der Leistungsgesellschaft funktioniert und sein Produktionslevel für den Rest des Jahres halten kann. Belohnung kann auch der entscheidende Wegweiser für die Art und Weise sein, wie wir reisen wollen. Steht bei Deiner Reise eher Genuss und Vergnügen oder mehr Erfahrung und Entdeckung im Vordergrund? Auf dieser Basis will ich nun unterschiedliche Reisetypen beleuchten, die mir bisher begegnet sind.
Reisetypen
Reisetypen. Ist es nicht bemerkenswert, dass der Begriff „Tourist“ negativ behaftet, während jener des „Reisenden“ positiv konnotiert ist? Denn sowohl der klassische All-Inclusive-Reisende als auch der alternative Rucksacktourist erhalten im Reisepass denselben Einreisestempel für ein Touristenvisum. Einen Reisenden trennscharf zu kategorisieren, wäre problematisch. Denn der Backpacker, der seine Abgrenzung von Mainstream-Touristen geltend machen möchte, setzt ebenso stark auf Produkte der Tourismusbranche wie z.B. Reiseführer von Lonely Planet oder Online-Bewertungen auf Tripadvisor. Klar: Reisende haben unterschiedliche Weltanschauungen, Reisemotive und verbinden das Erlebte mit unterschiedlichen Bedeutungen. Selbst der Reisezweck kann sich von Ort zu Ort verändern. Dennoch erlaubt aus meiner Sicht eine inhaltliche Unterscheidung zum zentralen Reisemotiv zwischen dem Reiseziel als Schauplatz und dem Reiseziel als Erfahrung eine zumindest temporäre Differenzierung von Reisetypen. Erst unter dieser Voraussetzung möchte ich bei der trivialen Unterscheidung zwischen Mainstream-Tourist und Backpacker bleiben.
Mainstream-Tourist vs. Backpacker
Der Mainstream-Tourist wird von der Tourismusbranche geradezu ermutigt, ein Voyeur zu sein. Für ihn wird der Reiseort zum Schauplatz, den er visuell konsumiert. Er will sehen, was bereits dargestellt wurde. Aspekte einer anderen Kultur sollten möglichst so gekleidet sein, dass sie dem Image entsprechen, welches schon auf Instagram-Kanälen oder in Broschüren präsentiert wurde. Ort und Erfahrung werden von ihnen als authentisch in Bezug auf ein offizielles Foto beurteilt. Reiseziele werden zu Orten der Betrachtung des Anderen und weniger zu Orten, mit denen und in denen man interagieren kann. Außerdem werden die Destinationen so ausgesucht, dass genug da sein sollte, das aufregend und prickelnd ist. Typischerweise ist der Mainstream-Tourist ein passiver Genussmensch, der sich in vorprogrammierten Attraktionen und Pseudo-Events vergnügt und erwartet, dass ihm unterhaltsame Dinge passieren. Das ist auch der Grund, warum er das Berechenbare und Verpackte sucht, um jene Orte zu konsumieren, die fest auf der Touristenkarte verzeichnet und als bedeutsam und besuchbar markiert sind.
Backpacking dagegen ist eine institutionalisierte Alternative zum klassischen Mainstream-Tourismus. Nomaden, Drifter, Tramper, Trotter. Backpacker tragen viele kreative Namen. Meistens sind sie längere Zeit unterwegs und wählen in ihrem selbstreflexiven Projekt unabhängige und flexible Reiserouten, um sich eine Pause vom sozialen Erwartungsdruck in Bezug auf neue Rollen und Karrieren zu gewähren. Ihnen geht es weniger um eine Erholung oder abwechslungsreiche Freizeitgestaltung. Sie entscheiden sich bewusst für eine Lebensphase, die zur Entwicklung einer reflexiven und gegebenenfalls kosmopolitischen Identität beitragen soll. Backpacker wollen Erfahrungen akkumulieren, haben den Wunsch nach Interaktion mit Fremden und suchen nach Erfahrungen mit Unterschieden. Das Reisen gibt ihnen Gelegenheit, sich Wissen im Kontrast zum formalen Bildungssystem anzueignen.
Verzerrungen von Reisekonzepten
Missbrauch. Allerdings kann Backpacking als Konzept missbraucht werden, wenn man bloß Koffer gegen Rucksack tauscht und weiß, dass unabhängige Reisende in ihrer Heimat mit erweitertem Wissen, stärkerem Identitätsgefühl und sozialem Status akkreditiert werden. In diesem Fall schlüpfen Mainstream-Touristen in die Rolle des Backpackers, um ihre Fassade neu zu streichen. Dann werden Orte gesammelt und kulturelles Kapital wird angeeignet, nur um sie bei Bedarf als Mittel zur Prahlerei oder zum Aufbau einer positiven sozialen Reputation einzusetzen.
Ein weiterer Störfaktor für die prägenden Aspekte eines Reiseprozesses kann der permanente Internetzugang sein. Vor allem Social Media. Die ständige Auseinandersetzung mit dem Zuhause und dem Vertrauten sind Filter, die das Verständnis von Ort und Zeit am Reiseziel sowie das Reiseerlebnis manipulieren können. Und an dieser Stelle kann ein weiterer Störfaktor zum Verbindungsscharnier zwischen diesen beiden Welten werden: Fotos und Videos. Wenn beispielsweise Instagram-Stories von bereisten Orten wichtiger werden als die Reiseerfahrung selbst. Durch diese kommunikative Deterritorialisierung ist der Reisende zuhause sozial präsent, während er physisch abwesend ist. Raum und Erfahrung verschmelzen nur durch die Kamera. Die Kamera ist es, die ihm auch als Fluchtweg dienen kann: die Angst, die aufkommen muss, wenn der Reisende sich fragt, wozu sein aktueller Aufenthaltsort oder eine Konfrontation eigentlich sinnvoll sind, kann er bequem durch die Inbesitznahme eines Fotos ersetzen, in persönliches Eigentum umwandeln und zuhause damit beeindrucken. Insgesamt kann der Backpacker aber dadurch charakterisiert werden, dass er aktiv einen echten Erfahrungsaustausch mit dem authentischen Anderen sucht. Echt und authentisch. Was ist das eigentlich?
Authentische Reiseerfahrungen
Das Authentische. Weil der Schwerpunkt für die meisten Reisenden auf authentischen Erfahrungen liegt, muss man idealisierten Wünschen nach echten Erfahrungen mit Vorsicht begegnen. Denn das Dilemma am Authentischen liegt in seiner Natur: es wird auf Fragmente seiner Realität reduziert. Es ist subjektiv. Alle Reiseerfahrungen sind an eigene Vorkenntnisse, Erwartungen und Fantasien gekoppelt, die meistens in der Herkunftskultur des Reisenden entstehen. Das „echte“ Reiseerlebnis ist also nichts anderes als neues Wissen, das in der Auseinandersetzung mit der Destination geschaffen wird. Von diesem Standpunkt könnte man den Begriff auf drei Ebenen unterscheiden.
Erstens könnte sich das Authentische auf Objekte beziehen: eine erlebte Tanzshow oder eine besichtigte Statue sind bereits objektiv authentisch, weil sie sich rein auf ihre Essenz pragmatisieren lassen. Zweitens können Reisende durch ihre subjektive Wahrnehmung bestimmten Objekten und Symbolen Authentizität zuweisen. Von diesen beiden objektbezogenen Perspektiven unterscheide ich noch eine dritte Ebene, die für mich gehaltvollste: die aktivitätsbezogene Authentizität. Wenn ich unterwegs etwas Authentisches erlebe, meine ich einen Seinszustand, der durch eine bestimmte Aktivität hervorgerufen wird. Das kann ein persönlich interpretiertes Gefühl zu mir selbst und/oder eine bestimmte Art der Beziehung zu anderen sein.
Unterm Strich basiert das Authentische also auf der Begegnung mit dem neuen Raum, den man einerseits mit allen 5 Sinnen kennen lernen kann, der andererseits von eigenen Vor-Erfahrungen und Vor-Präferenzen beeinflusst ist. Wirklich bedeutsam wird die authentische Erfahrung aber erst, wenn der Reisende mit dem Raum interagiert und ihn mit seiner Persönlichkeit durchdringt und deshalb seine Bedeutung darin verändert. Es geht dann nicht bloß ums Schauen, sondern ums Teilnehmen, Erfahren und Lernen. Das bedeutet in Kontakt zu treten, mit dem, was man für authentisch hält.
Mein Reise-Ich
Mein Reise-Ich. Ich bin alles und nichts von dem, was ich hier beschrieben habe. Obwohl ich mich eher im Backpacker-Modell verorten würde, habe ich im Laufe der Zeit sowohl auf der Straße, in Hostels als auch in Fünf-Sterne-Resorts geschlafen, stoppte Autos in Südamerika und mietete Rennwagen in den USA. All die oben genannten Aspekte treffen auf die meisten Reisetypen zu. Nur trifft man nie auf dieselbe Kombination. Es gibt immer eine bestimmte Hierarchie zwischen den Elementen, aus denen sich Reise-Identitäten zusammensetzen. Diese Hierarchie verschiebt sich und verändert damit laufend das eigene Verhalten. Deshalb ist mein Reise-Ich vielfältig und widersprüchlich, weil es durch die auftretenden Erfahrungsaushandlungen im bereisten Raum permanent konstruiert und dekonstruiert wird. Wenn ich meiner Reise Sinn verleihen kann, macht es mir überhaupt nichts aus, wochenlang auf einem Holzboden zu schlafen. Wenn diese Phase zu Ende geht, freue ich mich auch wieder auf mehr Komfort. Das bedeutet aber nicht, dass ich mehrere Identitäten habe. Ich habe nur eine einzige Identität, die sich aus vielen Komponenten in einer einzigartigen Mischung zusammensetzt und deren Elemente je nach Situation priorisiert werden. Das Langzeitreisen liefert mir eine Reihe von Möglichkeiten, ehemaligen Beschränkungen zu entkommen und das eigene Selbst zu hinterfragen.
Meine Reisemotive
Ich glaube, in unserer westlichen Gesellschaft haben wir meistens die Freiheit, etwas zu werden. Beim Reisen hat man die Freiheit, zu sein. Bei mir schafft besonders die Begegnung mit dem Naturraum ein gesteigertes Bewusstsein für das Selbst sowie ein emotionales und physiologisches Empfinden für Freiheit, weil es kein Entrinnen vor der Gegenwart gibt. Zwar kann auch die Anonymität, die eine Stadt ihren Bewohnern gewährt, befreiend sein. Sie ist aber Ort der Freiheit und Isolation zugleich. Warum ich reise, hat vor allem mit meiner Neugier auf diese Welt zu tun, dem Kontakt zum vergleichbaren Anderen, zu neuen Orten. Gerne gehe ich dorthin, wo ich vorher noch nicht war. Gerne lerne ich etwas, was ich vorher noch nicht wusste. Eines ist auch klar: Je mehr Austausch mit dem Anderen, desto seltener wird die eigene Identität. Und ich denke, dass die Neugierde auf das Anderssein auch der Schlüssel zur Entdeckung eines nachhaltigen Miteinanders in unserer Welt ist. Letztlich spielt doch die Entscheidung überhaupt keine Rolle, für welche Art von Reise man sich entscheidet. Was zählt ist die Beziehung zu unseren Entscheidungen und wieviel Energie wir hineinstecken.
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