„Wie kann man nur freiwillig in so ein Land reisen?“, lautet die selektive Empörung, die mir vor Reiseantritt entgegen gebracht wird. Der häufigste Vorwurf: Saudi Arabien verstößt gegen grundlegende Menschenrechte. Eine berechtigte Kritik. Nur liegt gerade in dieser Vereinfachung eine gefährliche Verlockung zur Bewertung eines gesamten Kulturraums. Es entmenschlicht. Ich weiß auch nicht, was mich in einem Land erwartet, das 2019 zum ersten Mal in seiner Geschichte seine Grenzen für internationale Freizeittouristen öffnete. Deshalb reise ich hin. Um mich zuversichtlich Land und Leuten hinzugeben.

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al-Naslaa: Entlang der Weihrauchstraße bestaune ich geologische Wunder

Zugegeben. Das mit der Hingabe in Saudi Arabien habe ich mancherorts vielleicht etwas überzogen: ich habe zehn Eier im Auto verstaut und nach zwei Wochen nur zwei gefunden, den Unterboden meines Autos demoliert, Kaffee im Auto gekocht, weg fliegenden Geldscheinen auf der Autobahn hinterher gejagt, unbekleidet im Meer gebadet, mit einer verschleierten Frau aus Mekka geflirtet, für eine Kiste Kohle und Hähnchenflügel Zutritt zu gesperrtem Gebiet erhalten und am Lagerfeuer die Schlafmatte abgefackelt. Noch elanvoller waren aber meine Begegnungen mit den Menschen in der größten Sandwüste der Welt.

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Gartenpfleger Ahmad genießt in der Oase von Yanbu Al Nakhal seine Mittagsruhe.

Fremde sind Ehrensache

In einem Wüstendorf mit Zapfsäulen halte ich. Man tankt in Saudi Arabien nicht wenn man muss, sondern wenn man kann. An diese prophylaktische Routine habe ich mich nicht nur wegen der Hitze und den Distanzen gewöhnt, sondern weil ich keinen Gebetskompass für den „Salawat“ mitführe – den fünf islamischen Pflichtgebeten pro Tag. Zu diesen zeit- und ortsvariablen Gebetszeiten mit wenig vorhersehbaren Zeitspannen hat nämlich alles geschlossen: Supermärkte, Restaurants, Banken. Auch Tankstellen. Wenigstens bleibt einem beim Tanken in Saudi Arabien etwas Kleingeld für Snacks und Kaffee mit grünem Kardamom übrig – der Benzinpreis liegt aktuell bei 60 Cent pro Liter, obwohl er sich seit Pandemiebeginn verdreifacht hat. Diesmal will ich aber nicht nur Dattelkekse essen – in einem dunklen Restaurant bestelle ich Kamelsuppe und Lammcurry.

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Die Prophetenmoschee „al-Masdschid an-Nabawi“ ist die Ruhestätte des Propheten Muhammed und die zweitheiligste Moschee im Islam. Unter der Grünen Kuppel liegt das Grab Muhammeds.

Völlig unerwartet entflammt eine Diskussion mit den Restaurantbesitzern Sami (73) und Afif (51) als ich nach der zweiten Portion mein Geld auf den Tresen lege. Sie wollen meine Riyal-Scheine nicht annehmen – und machen böse Miene zum guten Spiel. Während der eine meine trickreichen Bezahlversuche abwehrt, bereitet der andere freigiebig noch eine zweite und dritte Portion für mich zum Mitnehmen vor. Hilflos bin ich der Güte von Vater und Sohn ausgeliefert, warmherzig lächelnden saudischen Jemeniten, die mich am Ende mehrfach mit einer segnenden Gestik verabschieden: die eine Hand auf’s Herz gelegt, während die Fingerspitzen der anderen Hand zuerst aneinandergedrückt, dann geküsst, zur Stirn geführt und oben wieder geöffnet werden. Eine Sprache der Ehre, die jede Seele versteht.

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Als „Rand der Welt“ werden die Felsklippen von Jebel Fihrayn bezeichnet. Am Rande dieser Felsklippen bestaune ich die Risse unserer Erdkruste.

Prophetischer Wüstendienst

Nach einer Woche Wüstenfahrt passierte es: zwischen den bizarren Gesteinsformationen von al-Uhla bleibe ich beim Bergauffahren einer Düne mit dem Geländewagen im Sand stecken. Es war der richtige Schwung, die richtige Beschleunigung, nur der falsche Zeitpunkt. Einmal den Sand nicht richtig gelesen und schon ging es statt nach vorne, nach unten. Eingebuddelt. Im Hang zu hängen machte die einbrechende Dunkelheit nicht besser. Doch wenige Minuten später erschienen zwei Lichter am Horizont. Nur mit meiner Stirnlampe konnte ich den Landcruiser zu meinem Auto lotsen. Am Steuer: Muhammed. Beim Barte des Propheten.

Muhammed stieg aus. Erst erkannte er meine Gefangenheit. Dann meine Befangenheit: sein Arabisch verstand ich nicht. Und so fuhr er wieder davon. Zwanzig Minuten später kam er mit einem Seil zurück. Heilfroh verknotete ich es eifrig an der Abschleppöse und war schon zum Abschleppen bereit. Doch der bärtige Mann in Weiß drehte sich nur um, kniete Richtung Mekka und betete für mich. Nicht für einen Augenblick. Ganze zehn Minuten. Stille. Man mag religiös sein oder nicht. Mit dieser höchstintimen Anteilnahme erhob er Mitgefühl und Menschlichkeit auf eine höhere Ebene. Ganz ohne Hashtags. Am Ende befreite er mich: Muhammed.

Gigantische Dünen, extreme Trockenheit, lebensfeindliche Salzpfannen. Auch das Fehlen von Oasen macht die Rub al Chali zur größten Sandwüste der Erde.

Kostenlose Entdeckungstour zu Trauminseln

Auf die Farasan Inseln freute ich mich vielleicht am meisten – ein 176-teiliges Korallenarchipel mit weißen Sandstränden, Mangrovenwäldern und reicher Biodiversität. Die anderen Naturschätze schwimmen glasklar im Roten Meer herum. Zwei Mal pro Tag legt die Autofähre von der Hafenstadt Dschaizan Richtung Farasan ab. Den Ticketpreis bezahlt die saudische Regierung. Nicht zu bezahlen war dagegen meine Begegnung mit dem Fischermann Kaddour. Als ich auf der 1,5- stündigen Fährenfahrt zufällig mit ihm ins Gespräch kam, ahnte ich nicht das bevorstehende Ausmaß arabischer Gastfreundschaft.

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Besonders schön verziert sind die Farasan Inseln mit kristallklarem Wasser und weißen Sandstränden aus Muschelkalk.

Online konnte ich kein Hotel auf den Inseln buchen. Kaddour empfahl mir eines. Online konnte ich keinen Tauchshop finden. Kaddour gab mir seine Schnorchelausrüstung. Unermüdlich bot er mir seine Hilfe an. Als mir irgendwann nichts mehr einfiel, fragte ich eher beiläufig nach Strandempfehlungen. So kam es, dass er mich auf seinem Schnellboot samt Kapitän und Verpflegung zu einer ganztägigen Archipeltour zwischen unbewohnten Trauminseln mitnahm. Als Gegenleistung forderte er von mir seine Einladung zum Abendessen anzunehmen, das er erst aus dem Meer fangen und später aufwendig zubereiten würde. Es wurde mein schönster Reisetag – und das in bunter Gesellschaft von verspielten Delfinen, Rötelpelikanen, Weißaugenmöwen und Karettschildkröten.

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Eine junge Karettschildkröte beginnt ihren Lebensweg im Roten Meer.

Reisefürsorge als Vollkasko

Neben diesen Begegnungen hätte ich noch vom schmalen Beduinen erzählen können, der nachts im Al Wahbah-Krater aus dem Nichts herbei eilte nur um mir beim Zeltaufbau zu helfen. Vom Parfumeur in Riad, der mir Datteln, Tee und teures Agarholz schenkte. Vom LKW-Fahrer, der mich in der Steinwüste vor einer unpassierbaren Stelle für Autos trotzdem bis zu den spektakulären Klippen von Jebel Fihrayn mitnahm. Oder vom Marktleben in Dschidda, wo mir Männer und Frauen ein Lächeln schenkten und nur fürs Foto eine strenge Miene zogen.

Auch zwei Individualreisenden begegne ich. Frauen. Erst eine Polin, später eine Deutsche. Unabhängig voneinander erzählen mir beide dasselbe. Zuerst: dass sie die vorgeschriebene Abaya nun freiwillig tragen, weil die Verschleierung im Gegensatz zur eigenen Kleidung kühler, lockerer und angenehmer sei und gleichzeitig vor der Sonne schütze. Danach: dass sie sich alleine in einem fremden Land selten so sicher fühlten wie hier. Auch nachts.

Auch wenn Frauen in Saudi Arabien verschleiert sind – verschlossen sind sie nicht.

Reisen ist fatal für Vorurteile. Besonders wenn sie aus der Ferne – dem „Nahen Westen“ kommen. Kaum gibt es einen heimischen Bericht zu Saudi Arabien, der ohne Bewertungsmaßstab auskommt oder auf subtile Weise impliziert, die Menschen im Königreich besäßen unzureichende Vorstellungen von Menschenrechten. Diese bewundernswerte Großzügigkeit gegenüber Fremden – eine beduinische Tradition aus vorislamischen Zeiten, die der Koran zum religiösen Dogma erhob – lassen mich auf der menschlichen Skala über die eigenen Werte in der Heimat nachdenken, wo sich zunehmend eine Expertenkultur der Moralisierung entwickelt und oft zur Bedingung von Humanität für andere gemacht wird.

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Ein Blick durch’s Autofenster offenbart das gigantische Ausmaß der größten Moschee der Welt: bis zu zwei Millionen Menschen finden in der Al-Harām-Moschee in Mekka Platz. Das reicht nicht. Die Kapazität wird intensiv ausgebaut.

Im Tourismus hinterher – mit Gastfreundlichkeit voraus

Saudi Arabien transformiert sich. Und sein Königreich investiert nicht gerade in homöopathischen Dosen in die Öffnung seines Landes: mit bis zu 100 Milliarden Euro pro Jahr sollen bis 2030 eine Million Arbeitsplätze im Gastgewerbe entstehen und der Tourismussektor zehn Prozent des BIP ausmachen. Eigentlich ist das Geschäft mit der Reise ja noch älter als Islam und Königreich. Zwar suggerieren hervorragend konzipierte Websites eine Struktur der Professionalität. Wer sich das in der Praxis erwartet, muss Land und Leuten mehr Zeit geben: Diriyah durfte ich gar nicht erst betreten – das Weltkulturerbe bei Riad ist eine Megabaustelle. Auf meinen ersten Tauchgang im Roten Meer musste ich eine Woche warten, weil niemand in den Tauchzentren von Yanbu, Al Lith oder Dschidda auf E-Mails oder Anrufe reagiert. „Ein Systemfehler“, erklären die Saudis mit einem Augenzwinkern, „nicht der Mensch ist schuld.“

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Auf einem weißen Marmorfelsen fügt sich die aus Stein und Schiefer gebaute Stadt Thee Ain perfekt in die Idylle.

Wer auf einer Rundreise durch Saudi Arabien das Berechenbare und Verpackte sucht, sollte noch ein paar Jahre warten. Nicht einmal Postkarten gibt es im Wüstenreich. Wer selbstreflexive Erfahrungen mit Fremden oder unbekannten Orten als Kontrast zum bereits Erzählten akkumulieren möchte, darf jetzt schon mit dem Entdecken beginnen: wunderschöne Überraschungen halten sich in den Wüsten, Oasen, Bergen, Schluchten, Vulkanen und Meeren noch geheim. Überwältigend sind auch die kulturellen Schätze wie das Marmordorf Thee Ain, die lebhaften Souks von Dschidda oder das antike Mada’in Salih als Pendant zum jordanischen Petra. Eines ist gewiss: mit ihrer Großzügigkeit, Fürsorge und Gastfreundschaft haben die Saudis ein herausragendes Alleinstellungsmerkmal im neuen Tourismussektor.

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Nach 6.000 Kilometern durch das Königreich sind Dr. Thomas Jasinski und ich gut in der Hauptstadt Riad angekommen.

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