Eigentlich sah es meine Buchung vor, nach dem Ausflug in der Bahía inútil bei den Königspinguinen mit Touristen-Van und Fähre nach Punta Arenas heimzukehren. Alternativ hätte ich von dieser Bucht auch einen Bus nach Argentinien nehmen können. Schließlich wollte ich demnächst ans „Ende der Welt“ nach Ushuaia. Aber immer die perfekte Planung und Organisation zu haben, das zerstört das Potential für authentische Erfahrungen und Kreativität. Viel wichtiger wird mir die Selbsterfahrung auf meinen Reisen. Die macht man besonders dann, wenn man Probleme lösen muss. Weil ich seit Monaten keins hab, schaffe ich mir eins.
Adios!
Ein schallendes „Vamos, vamos!“ ertönt plötzlich hinter mir. So abrupt stoppte unser Touristenführer den Anstieg meines Glücksbarometers vor den Königspinguinen. „Zurück in den Van“, heißt es nur. Ich fühle mich als Reise-Häftling. Einem, dem gerade seine kurze Ausgangssperre entzogen wurde. Schnell noch die letzten Blicke. Noch ein letztes Foto. Und schon knallt die schwere Schiebetür unseres Vans zu. Zu zehnt sitzen wir nun im Bus. Stille. Wie konnte das sein?! Soeben haben wir der antarktischen Majestät einen Besuch abgestattet. Königspinguine! Wie oft habe ich sie im Fernsehen bestaunt. Wie wunderschön sind sie hier in freier Natur gewesen.
Nein. So durfte dieses Erlebnis nicht enden: 5h Anreise – wenige Minuten beobachten – 5h Heimreise. Es ist bereits finster. Kurzerhand beuge ich mich zum Fahrer nach vorne und rufe ihm zu, er soll mich an der nächsten Kreuzung zwischen der Y-71 und der Ruta 257 aussteigen lassen. Ich will zu Fuß nach Argentinien. Quer durch Feuerland. „¿En serio?“, fragt der Fahrer. „¡En serio!“, antworte ich. Die anderen Touristen waren genauso sprachlos wie zuvor. Nur ihre Augen sind diesmal weit aufgerissen. Unter verwunderten Blicken steige ich aus.
Aufbruch ins Nichts!
Der Touristen-Van fährt ab. Ohne mich. Was für ein Glück! Was für eine Freiheit! So müssen sich die Guanacos hier fühlen. Jetzt bin ich allein auf Feuerland. Schnell ziehe ich mir meine wärmste Kleidung an: Daunenjacke, Handschuhe, zwei Hauben, ein Schal fürs Gesicht. Hier auf Feuerland – der antártica chilena – hat es gerade -5°C. Mit den subantarktischen Winden fühlt es sich wie -15°C an. Und es ist stockfinster. Jetzt muss ich noch meinen 23kg schweren Rucksack aufladen. Abmarsch Richtung Argentinien!
Schneller als gedacht wich mein anfängliches Freiheitsgefühl der hohen Belastung, der ich hier ausgesetzt bin. Schon nach 20min benötige ich die erste Pause. Meine Schultern schmerzen enorm. Ich erinnere mich an ein Schild bei der Hinfahrt: 48km waren es von der Kreuzung – wo ich aus dem Touristen-Van ausstieg – bis zum nächsten Ort in Argentinien (San Sebastian). Bei der Anreise sah ich auch viele Trucks die Ruta 257 entlang fahren. Und genau das war meine ursprüngliche Idee: ein Stückchen zu Fuß, den Rest der Strecke werde ich Autos bzw. Trucks stoppen. Zuversichtlich bleiben! Es wird schon ein Auto kommen. Und 2km habe ich schon geschafft.
Aussichtslos?
Nach weiteren 15min Marsch muss ich wieder rasten. Der starke Wind und die Kälte sind noch erträglich. Aber der Rucksack ist einfach zu schwer. Ich muss dennoch vorwärts. Wieder stehe ich auf. Weiter geht’s. Ich beginne mit dem Kopfrechnen: Wenn ich pro Stunde 5km zurücklege, bin ich in ca. 10h in San Sebastian. Rechtzeitig zum Morgenkaffee. Sind doch keine schlechten Aussichten!? Vergeblich drehe ich mich ständig um – in der Hoffnung, zwei erlösende Lichter am Horizont auftauchen zu sehen. Aber hier ist einfach alles nur stockfinster. Nach weiteren quälenden 15min Richtung Argentinien setze ich mich endgültig hin. 1h muss vergangen sein. Und ich bin völlig erschöpft. Jetzt realisiere ich, wie bedrohlich meine Situation eigentlich ist.
Schlafen? Das ist keine Option. Zu groß erscheint mir selbst mit Schlafsack das Risiko, bei diesen eiskalten Windspitzen auf offenem Feld zu erfrieren. Zumindest weiß ich, dass es außer Guanacos, Füchsen, Hasen, Mäusen und Biber keine gefährlichen Tiere hier gibt. Pumas sind weiter nördlich. Angesichts meiner Lage kamen mir nur zwei Optionen in den Sinn: 1.) Völlig ausflippen! Allerdings erschien mir der dabei entstehende Energieverlust wenig zielführend. Oder 2.) an meine Rechnung zu denken: 5km/h bedeuten immerhin Ankunft in nur noch 9h.
Und dann fühle ich plötzlich eine dritte Option: das beste aus meiner aktuellen Lage zu machen. Statt auszuflippen oder weiter zu marschieren, starre ich seelenruhig hinauf: ins Sternenbild am Nachthimmel der südlichen Hemisphäre. Wie viele Menschen auf dieser Welt könnten in diesem Moment wohl eine schönere Perspektive haben? Ich muss wirklich ein Glückspilz sein. Und das war ich. Denn plötzlich ging 1 Licht am Horizont auf. Zwar nicht jene zwei rettenden Lichter eines herbeifahrenden Trucks. Dafür das aufgehende Licht des Mondes. Ich richte mich auf. Voller Freude und Zuversicht entweicht mir sogar ein lautes Auflachen. Und marschiere weiter. Wie schön und einzigartig es hier doch ist.
Belohnte Zuversicht
Und nach 2h nachts alleine auf Feuerland, plötzlich doch: 2 Lichter am Horizont! Sie kommen mir entgegen. Noch ein wenig skeptisch und doch voller Hoffnung, warte ich noch etwas ab. Dann erkenne ich ihn. Es ist tatsächlich ein Truck. Ich muss ihn aufhalten. Noch einmal blicke ich auf meine Uhr. Kaum zu glauben! Vor lauter Freude habe ich gar nicht gemerkt, dass ich seit meiner letzten Rast 45min (!) zügig, beschwerdefrei und ohne Pause weiter marschiert bin. Welch Kräfte die Zuversicht entfaltet! Ich stelle mich mitten auf die Fahrbahn. Laut über die Schotterstraße donnernd, kommt mir der Truck entgegen gebraust. Ganz wild winke ich mit beiden Armen. Hoffentlich sieht er mich. Noch wilder springe ich auf und ab. Der Truck hält. Vorsichtig gehe ich zum Führerhaus und erkläre in schlechtem Spanisch, dass ich nach Argentinien will. Mit skeptischem Blick inspiziert mich der Lenker. „Eigentlich ist mir verboten worden, unterwegs Leute mitzunehmen. Aber steig ein. Ich kann Dich in San Sebastian bei einem Hotel absetzen.“ Wo ein Licht ist, da ist auch ein Weg.
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