Wochenend-Ausflug. Richie, Adnan, Daniel und ich möchten zu den Waitakere-Bergen vor dem Tasmanischen Meer. Die Idee hatte eigentlich Tom, unser Host. Deutscher Physikingenieur, der sich seinen Lebenstraum mit einer Strandvilla in Bucklands Beach (Auckland) erfüllt hat. Schon öfters sei er in den vergangenen 20 Jahren am Karamatura-Trek wandern gewesen. Begeistert berichtet er von der unberührten Natur und Wasserfällen, wie sie sonst nur in Bilderbüchern zu finden sind. Groß leuchten unsere Augen auf. Die Vorfreude ist gigantisch 🙂
Warnung vor unserem Wanderstart
Start. Schon bei der Hinfahrt lässt ein Blick auf die verführerische Huia-Bucht bereits erahnen, was wir heute alles zu sehen bekommen könnten. Im Rucksack parken Wasser, Sandwich und Handtuch. Es geht los! Beim Eingang warnt uns ein Park Ranger eindringlich davor, den markierten Karamatura-Weg zu verlassen. Erst vor ein paar Tagen habe sich dabei ein junges Mädchen im steilen Gelände den Fuß gebrochen. Ihre Bergung war nur per Hubschrauber möglich, und auch das sei Glück gewesen. Gestern war Starkregen. Der Park Ranger sagt, wenn wir der Wegmarkierung folgen, sei das kein Sicherheitsproblem. Wir danken ihm für seine Besorgnis und starten unsere Wanderroute.
Tom hat sogar ein GPS-Funkgerät dabei. Nur für den Notfall. Es beginnt zu regnen. Und es ist völlig egal. Denn der Karamatura-Weg führt uns unter immergrünen Baumdächern mal an Silber-, Baum- und Palmfarnen, dann wieder an Agaven- und Yucca-Palmen vorbei. Über uns funkelt sogar das blaue Federkleid des scheuen Tui-Vogels zwischen den Ästen – unter uns schimmern bunte Orchideen. Eine völlig neue Flora und Fauna für mich. Das Grinsen nimmt kein Ende. Nach 30min erreichen wir den Karamatura-Wasserfall. Was für eine Gegend!
Off-Road
Tom hat eine Idee: Wenn wir den Karamatura-Wasserfall seitlich hochklettern würden, sollten noch mehrere Wasserfälle dahinter kommen. Folgt man dann noch dem Flusslauf durch den Dschungel, würden wir an einem anderen Wanderweg, dem Twins Peak-Track, wieder herauskommen. Sofort dringt die warnende Stimme des Park Rangers in unsere Köpfe: auf keinen Fall sollten wir ja die Wegmarkierung verlassen. Felsen, Wurzeln, Blätter: heute ist alles besonders rutschig. Aber. Wir beschließen es zumindest zu versuchen. Schließlich könnten wir ja jederzeit umdrehen, falls es zu heikel wird. Könnten.
Es geht los. Aufwärts. An Ästen und Wurzeln können wir uns gut festhalten. Kein Problem, der erste Wasserfall. Über steile, rutschige Felsen steigen wir weiter auf. Über den Verstand hinaus. Schon der zweite und dritte Wasserfall verzaubert uns. Beim vierten und letzten Wasserfall machen wir Rast. Wir haben den Garten Eden gefunden. Das Paradies auf Erden. Ein Meisterwerk der Natur, so reichhaltig, so fruchtbar und harmonisch, dass es jeden Gärtner überflüssig machte. Splitternackt springen wir in das glasklare Wasser. Schwimmen. Jubeln.Lachen. So musste sich Glückseligkeit anfühlen…
Verlorenes Paradies
Wir haben gesehen, was wir uns erträumt hatten. Hier hätten wir noch umkehren können. Zerrissen zwischen Wollen und Sollen, zwischen Können und Tun. Schließlich halten wir an der abenteuerlichen Idee fest, mitten durch den Dschungel zu wandern um später auf den Twins-Peak-Track zu stoßen. Tom hat ja sein GPS-Gerät dabei. Das gibt uns Sicherheit. Nach einer Weile verlassen wir den mittlerweile brusttief gewordenen Flusslauf. Und es wird steiler. Dichter und dichter. Hartnäckige Lianen versperren unser Durchkommen. Mehrmals bleiben wir stecken. Für 2 Meter vorwärts brauchen wir oft 1 Minute. Nach 1h verlieren wir endgültig unsere Orientierung. Und das Signal! Es passiert tatsächlich. Toms GPS-Funkgerät zeigt nichts mehr an! Handy-Empfang haben wir schon lange nicht mehr. Und wir kennen weder den Weg nach vorne noch zurück. Wir kämpfen uns weiter nach vorne – weil wir vermuten, dass wir kurz vor dem zweiten Wanderweg sein mussten – durch dichte Pflanzen, Wurzeln und Lianen. Scharfe Blätter und Farne schneiden sich in unser Fleisch.
Nach einer weiteren Stunde Kletterkampf geht es nicht mehr nach oben, sondern bergab. Jetzt mussten wir auf einem Bergrücken sein. Aber Toms verzweifelter Blick auf sein GPS-Gerät spricht Bände. Wir haben überhaupt keine Ahnung wo wir sind und können uns im hohen Dickicht an gar nichts orientieren. Es ist bereits Nachmittag – in 2 Stunden ist es stockdunkel. Humor hat uns längst verlassen. Wir haben kein Essen, kein Trinken, keinen Schlafsack, keine warme Kleidung bei regnerischen 10°C. Während dem Abstieg stelle ich mich mental bereits darauf ein, dass wir die kalte Winternacht im Dschungel verbringen müssen. Das einzig Positive: im Gegensatz zu Indien, Peru oder zum Kongo gibt es im neuseeländischen Dschungel keine gefährlichen und giftigen Tiere.
Der Abstieg wird immer steiler, immer gefährlicher. Wir können uns nur noch an Wurzeln festhalten. Als ich einmal nach einem Felsen greife, bricht plötzlich ein Stück ab und ein 70kg-Felsbrocken fällt mir auf den Rücken. Zum Glück aus geringer Fallhöhe. Wenige Zentimeter links und er hätte meine Wirbelsäule getroffen. So komme ich mit großflächigem Hämatom davon. Wenige Minuten später lösen sich unter meinen Schuhen Steine und fallen Daniel auf den Kopf. Er erleidet ein Cut über dem Auge. Blut läuft ihm übers Gesicht. Orientierungsblind steigen und fallen wir weiter ab, in der Hoffnung bald einen Ausweg zu finden.
Sackgasse
Und plötzlich stehen wir vor einem Wasserfall. Auch das noch! 12 Meter tief. Umgeben von senkrechten Felsklippen. Weder nach links noch nach rechts bietet sich ein Ausweg an. Sackgasse. Ein Zurück über den steilen, losen, rutschigen Untergrund ist ebenso unmöglich. Wir sind gefangen. Und dann sagt Tom: „Abseilen!“ Direkt am Wasserfall. Und holt sein Seil heraus. Er meint es ernst. Niemand von uns kann abseilen. Schon gar nicht an einem 12m tiefen Wasserfall bei Regen. Ein schlechter Griff auf die nassen Felsen, ein falscher Tritt, und ein kleiner Fehler wird mit dem Tode bestraft. Für mich ist das keine Option, sage ich zu Tom. „Und was willst Du sonst tun: hierbleiben?“, schrie er. Ja, hier bleiben. Sich unter solchen Bedingungen abzuseilen bedeutet den sicheren Tod. Hier oben haben wir reichlich Wasser und notfalls Zellulose. Ein Rettungsteam könnte uns vielleicht in ein paar Tagen entdecken. Die Option noch ein paar Tage länger zu leben, scheint mir günstiger, und doch ist sie so beängstigend.
Angezogen vom Lebensweg
Ich starre ins Leere. Während Tom weiterhin eifrig das Seil befestigt, Richie, Adnan und Daniel ebenfalls ratlos dasitzen, schalten sich meine Gedanken aus. Und dann passiert es. Etwas zieht mich plötzlich nach rechts. Vergleichbar mit einer Zentrifugalkraft, die einen aus der Bahn wirft. Nur das mir dieser Weg so befreiend erschien, als ob er von Licht durchflutet wäre. Zu Tom und den anderen sage ich nur: „Ich gehe nach rechts.“ Niemand von uns konnte erkennen, ob dieser Weg überlebensfähig ist. Mein plötzliches Handeln musste so klar erschienen sein, dass ich keine Reaktion mehr von den anderen wahrnehmen konnte. Alle folgen.
Selbst mein Verstand hatte keine Möglichkeit mehr, sich einzumischen. Weder ging es jetzt um Toms Abseilen noch um mein Verweilen vor dem Abgrund. Es ist die absolute Hingabe an eine Ebene, die offensichtlich tiefer als mein Verstand und der Wasserfall liegt. Schritt für Schritt taste ich mich an den steilen Felshängen abwärts, nach Wurzeln greifend. Reines Handeln nach Instinkt. Mögliche Gefahren auf dem Weg hinunter wurden aus der Weite meiner offenen Grundhaltung abgewehrt. Weder empfinde ich Freud noch Leid. Nicht einmal Hoffnung oder Furcht kommt während dem Abstieg auf. Und dann stehen wir tatsächlich unten. Groß ist die Erleichterung, aber noch vorsichtig unsere Freude. Denn noch immer waren wir nicht gerettet. Wir mussten einen Weg hinaus aus dem Dschungel finden.
Tiefer als Verstand und Wasserfall erlauben
Wieder geraten wir in steiles Gelände. Wieder rutschten wir aus, schnitten uns auf und fielen hinunter. Und so seltsam wie schicksalhaft es wohl klingen mag. Wieder standen wir wenig später direkt am Abgrund eines neuen Wasserfalls. Und dieser war noch tiefer. Wieder umzäunt von senkrechten Felsklippen links und rechts. Erneut holt Tom sein Seil heraus und sagt: „Uns bleibt nichts übrig. Jetzt müssen wir uns abseilen.“ Er sieht mich an. Seine Stimme klang zögerlich. Es bedurfte keiner Antwort mehr. Und kommentierte sich von selbst. Das einzige was ich zu sagen hatte war: „Wir müssen hier entlang.“ Wieder verspürte ich dasselbe Gefühl tiefer Klarheit und Einheit mit der Umgebung. So wie zuvor. Noch einmal war es das blanke Gefühl des Ausgeliefertseins. Dass ich nicht bekämpft, sondern zugelassen habe. Und damit einverstanden war.
Bis heute habe ich keine Erklärung für mein enormes Selbstbewusstsein in dieser Situation. Schließlich konnte keiner wissen, ob uns mein Weg nicht doch in den Tod führen würde. Ein Abstieg schien nämlich erneut völlig aussichtslos. Vielleicht folgten mir ja alle, weil ich an vorderster Front der erste gewesen wäre, der abgestürzt wäre 😉 Ich weiß nur, dass ich in beiden Wasserfall-Situationen eine ganz spezielle Verbindung von Bauchgefühl und Verstand empfangen oder gespürt habe. Wir schafften es. Erneut konnten wir nach mehreren heiklen Steilpassagen ohne schwere Verletzungen den Wasserfall an der rechten Seite überwinden. Noch ein paar Kratzer und Stürze weiter. Und plötzlich fielen wir förmlich auf den gut markierten Karamatura-Weg! Wer hätte das gedacht?! Erstens, dass wir im Kreis gelaufen sind. Zweitens, dass wir da noch lebend heraus kommen. Mit Freudentränen fallen wir uns erleichtert in die Arme. So muss sich Glückseligkeit tatsächlich anfühlen…
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